Geschichte

Die Geschichte der Mittelschule Borbeck 1925 – 1945

„Non scholae, sed vitae discimus“ – Über diesen Spruch, dass man nicht für die Schule, sondern für das Leben lernt, haben Schüler und Schülerinnen seit der Antike gelacht. Und doch – als Borbecker Eltern in den 20er Jahren eine Erweiterung des Borbecker Schulsystem forderten, als sie auf Einrichtung einer Mittelschule drängten, da bedienten sie sich der alten Spruchweisheit, indem sie die gymnasiale Ausbildung der praktischen Ausbildung an der Mittelschule, an der – wie sie es nannten – „Lebensschule“ gegenüberstellten: „Zweck der höheren Schulen“ – so war in der Essener Volkszeitung am 21. Oktober 1924 zu lesen – „ist die Vorbereitung auf wissenschaftliche Studien, weshalb ihr Unterrichtsbetrieb nicht auf die Vorbereitung für das praktische Leben zugeschnitten ist; zudem geben sie ein abgeschlossenes Bildungsganzes nur dem, der alle Klassen derselben durchmacht. Für Schüler, die also nur einige Jahre höhere Schule besuchen sollen oder wollen, um dann ins praktische Leben einzutreten, müssen sie demnach als ungeeignet bezeichnet werden. Weiterhin ist der Andrang zu den gelehrten Berufen ein derartig großer, dass nur der Hervorragende auf ein Fortkommen in diesen Berufen rechnen kann. Die Entwicklung auf dem Gebiete des Handwerks, des Kunstgewerbes, des Handels und der Industrie erfordert dagegen eine gesteigerte Ausbildung der Knaben und Mädchen für diese Erwerbszweige.

Im Zusammenhang damit macht sich das Bedürfnis nach einer geeigneten Vorbereitung auf mancherlei mittlere Stellung im Verwaltungsdienste des Staates und der Gemeinden, wie größerer Industrie- und Handelsgeschäfte geltend. Hierfür vorzubereiten, ist Aufgabe der Mittelschule; sie soll also Lebensschule sein; sie kann und soll mehr als irgendeine andere Schule bei allen unterrichtlichen Darbietungen und Entwicklungsgängen vom Leben der Heimat ausgehen und in ihrer praktischen Zielsetzung auf die Ertüchtigung für das wirtschaftliche Leben der Heimat hinstreben vermöge ihres Fachlehrersystems, des ausgewählten und in der Zahl beschränkten Schülermaterials und des besonders zugeschnittenen Lehrplans, der sich den gegebenen örtlichen wirtschaftlichen Verhältnissen anschmiegen kann. Eine derartige Vorbildung tut Not, heute mehr denn je, kann doch nur Qualitätsarbeit auf allen Gebieten uns wieder voranbringen. Einzige Voraussetzung zur Erlangung des Zieles ist, dass die in die Mittelschule eintretenden Kinder gut veranlagt, strebsam und hinlänglich unterrichtet sind und dass die Eltern an der geistigen und erziehlichen Förderung ihrer Kinder großes Interesse haben“

Besonders betont wurden die Berufschancen, die sich den Mädchen nach Abschluss der Mittelschulzeit boten: „Den Mädchen steht der Eingang in den mittleren Post- und Telegraphendienst und als Aushelferin im Eisenbahndienst offen; sie können in eine höhere Handelsschule, in die staatl.  Gärtnerinnenlehranstalt, in eine Hausfrauenschule Duisburger Systems, in ein Kindergärtnerinnen- und Hortnerinnenseminar, eine Frauenschule (als Gastschülerin), in den städtischen Bürodienst eintreten, sie können sich als technische Lehrerin, als Zeichenlehrerin, auch als Gewerbelehrerin weiterbilden.

Sahen Eltern vor allem die Zukunftsaussichten ihrer Kinder, so hatten die Politiker, die den Elternwunsch aufgriffen, ein zweites Blickfeld: Das Gymnasium sollte entlastet werden, da doch hier viele Schüler angemeldet seien, die für den Abschluss der höheren Schulbildung nicht in Frage kämen, wie der Stadtverordnete Dahms unterstellte.

Bei der Stadtverwaltung liefen die Initiatoren offene Türen ein. Bereits im April 1924 hatte das Schulamt die Zahlen der Borbecker Schüler und Schülerinnen in der Knaben- und Mädchen-Mittelschule Essen-West ermittelt und startete dann im Herbst eine Rundfrage in den Volksschulen. Das Ergebnis war eindeutig. Die Bedürfnisfrage wurde „unbedingt bejaht“.

Doch bevor die endgültige Entscheidung getroffen wurde, gab es noch einen Versuch unbekannter Seite, die Einrichtung einer Mittelschule zu verhindern. In einem Leserbrief an den Borbecker Lokal-Anzeiger wurde gegen den neuen Schultyp Stimmung gemacht: „Ist eine Mittelschule in Borbeck notwendig und erwünscht? … Dem wirklich begabten Schüler bietet schon die Volksschule durch die so genannten Förderklassen Gelegenheit, seine Anlagen und Fähigkeiten zu entfalten. Wir haben ferner in Borbeck ein humanistisches Gymnasium und eine Realschule, deren Ausbau zur Oberrealschule erstrebt wird. Die erste Fremdsprache des Gymnasiums ist Latein, im 3. Schuljahr kommt Französisch, im 4. Griechisch hinzu; die erste Fremdsprache der Realschule ist Französisch, im 4. Schuljahr tritt Englisch hinzu. An den höheren Schulen sind 15% Freistellen, außerdem besteht in Borbeck zur Unterstützung bedürftiger Schüler eine Schülerhilfe und eine reiche Hilfsbibliothek. Genügen diese Einrichtungen zur Förderung der Borbecker Jugend? Oder muss zwischen Volksschule und höhere Schule noch ein Mittelding stehen, damit möglichst jeder Deutsche etwas an Französisch oder Englisch lernt? Sollen wir etwa eine Schule für die minder Bemittelten schaffen oder die höheren Schulen abbauen und der Halbbildung möglichst Vorschub leisten? Soll die Volksschule in den oberen Klassen aller begabten Schüler beraubt werden? Soll sie ihre Förderklassen verlieren und zur Schule der geistig Armen herabgedrückt werden?“

Der Einspruch war nicht sehr überzeugend und er wurde auch umgehend zurückgewiesen. Ungeachtet der öffentlichen Diskussion beschloss der Mittelschulenausschuss am 20. März 1925 die Einrichtung der neuen Schule. Strittig blieb allein die Frage, ob die Schule konfessionell oder paritätisch (d.h. gemischt-konfessionell) sein sollte. Diese Entscheidung wurde in der Ausschusssitzung vertagt, da der Rektor Valentin ankündigte, dass die Zentrumsfraktion demnächst in der Stadtverordnungsversammlung einen Antrag auf Konfessionalisierung aller Mittelschulen einbringen werde. (Die Abstimmung an allen Essener Mittelschulen über die Konfessionalisierung fand im Sommer 1926 statt und brachte eine eindeutige Mehrheit – 1739 zu 1128 Elternstimmen – für die Beibehaltung der Parität.)

Nach der positiven Entscheidung des Mittelschulenausschusses blieb nicht viel Zeit, den Beschluss in die Tat umzusetzen. Bis zum 2. April hatten die Eltern ihre Kinder anzumelden. Die Aufnahmeprüfung, der sich jedes Kind unterziehen musste, war auf den ersten Tag nach den Osterferien angesetzt worden. Zudem mussten der Schulleiter und das Lehrpersonal bestimmt werden, womit der Rektor der Mittelschule Essen-West Nuyken beauftragt wurde. Seine Wahl fiel auf Wilhelm Kranendick, einen „alten Borbecker“.

Kranendick wurde am 5. Mai 1883 als ältester Sohn des gleichnamigen Hauptlehrers in Borbeck geboren. Hier begann er auch seine Schullaufbahn als Junglehrer an der katholischen Volksschule II. Nach seinen Militäreinsatz im Ersten Weltkrieg wechselte er an die Mittelschule Essen-Altstadt. 1925 kehrte Kranendick in seine Heimat zurück und er bestimmte, nachdem er 1927 offiziell zum Rektor ernannt worden war, bis zu seinem Tod Februar 1944 zwei Jahrzehnte die Geschicke der Schule. Unterstützt wurde er, dessen pädagogisches Können und dessen unermüdliche Tatkraft gerühmt wurde, im Gründungsjahr von den Lehrern Johann Paus, der nach dem, Zweiten Weltkrieg Rektor der Schule werden sollte, Wilhelm Uemminghaus und Karl Oberkirch sowie den Lehrerinnen Anna Schnaas und Julia Spennemann.

Das Lehrerkollegium hatte mit ungewöhnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, denn die Mittelschule Borbeck – von allen Beteiligten liebevoll Mibo genannt – besaß kein eigenes Schulgebäude. Der Unterricht für die 131 Jungen und 79 Mädchen, die im ersten Schuljahr aufgenommen worden waren, musste in Baracken stattfinden, die auf einem städtischen Grundstück zwischen dem Gymnasium und dem Lyzeum aufgestellt werden sollten. Doch zu Beginn des Schuljahres waren die Baracken noch nicht geliefert worden, so dass die erste Schulstunde der Mittelschüler und -schülerinnen am 27. April 1925 nachmittags um 2 Uhr im Gebäude des Gymnasiums abgehalten wurde. Erst nach den Pfingstferien zog man dann in die Baracken um, die sich Jahr um Jahr mit den Neuanmeldungen vermehrten.

Die Lehrerschaft, die Eltern, die Schüler und Schülerinnen waren über diese Unterbringung alles andere als glücklich. „Die Baracken haben“ – so klagte der Elternbeirat im Januar 1928 – „den Fehler, dass sie im Winter zu kalt sind, trotz der besten Ofenheizung. Die Schüler, die in der Nähe der Öfen sitzen, können sich vor lauter Hitze nicht retten, wogegen die Schüler am anderen Ende der Klasse frieren müssen, weil die Baracken die Wärme nicht im mindesten halten. Im Sommer brütet das Barackenlager in der Sonnenglut, dass die Kinder einem geregelten Unterricht nicht zuhören können, wegen der Erschlaffung, die durch ungenügenden Widerstand des Gebäudes entsteht. „Zu Recht beklagte der Elternbeirat diese „unhaltbaren Zustände“, und es ist verständlich, dass jeder Elternabend nur von einem Thema beherrscht wurde: Wann kommt endlich der Neubau für die Mibo?

Die Stadtverwaltung stand dem Neubau zunächst positiv gegenüber, sie hatte auch schon ein geeignetes Grundstück an der Prinzenstraße gefunden, auf dem ein – so der Oberbürgermeister Bracht – 90 Meter langer Monumentalbau entstehen sollte, der von der Mittelschule und der Borbecker Berufsschule gemeinsam genutzt werden konnte, doch die Realisierung ließ auf sich warten. Aus diesem Grunde verstärkte der Elternbeirat im November 1928 den öffentlichen Druck. In einer Erklärung, die an alle Essener Zeitungen übermittelt wurde, protestierte er gegen die Verzögerung: „Wir haben uns in Borbeck schon daran gewöhnt, der Erfüllung unserer Wünsche seitens der Stadt Essen mit Langmut entgegenzuharren. (Schwimmbad, Straßenbeleuchtung, Kanalisation etc.) Manche unserer Wünsche sind erfüllt dank unserer Zähigkeit, und so hoffen wir, dass auch der Wunsch, der nun schon seit 5 Jahren in uns brennt, bald, sehr bald Wirklichkeit werde: Der Neubau unserer Mittelschule! Die Herzen von 450, zu Oster vielleicht 550 Mittelschülern und Mittelschülerinnen schlagen diesen Neubau mit Sehnsucht entgegen. Sind uns nicht alle Nöte der Lehrer und Schüler in Holzbaracken bekannt! Ist es nicht ein Hohn auf die Kultur einer bedeutenden Stadt des Westens, wenn weiterführende Bildung in solchen Baracken erteilt werden muss?! Der Westen gilt doch seit Barbarossas Zeiten als vorzüglicher Träger deutscher Kultur! [Hämischer Randkommentar eines Beamten des Schulamtes: „Besonders Borbeck!“] Wo in Süddeutschland kennt man solche Holzbaracken?“

Die Elternschaft fand Verbündete in den Borbecker Handwerksinnungen und in den Verkehrsvereinen von Borbeck und Dellwig. Sie ließen das Argument der Stadt, es seien keine Gelder aufzutreiben, nicht gelten und fragten: „Sollte es nicht erste Aufgabe einer Stadt sein, vernünftige, gesunde und fröhliche Schulgebäude anstatt „Lichtburgen“, „Deutschlandhäuser“ usw. zu schaffen?“ Und wenn es mögliche gewesen wäre 1 1/2 Millionen Mark für das Lyzeum in Bredeney aufzunehmen, dann sollte auch der Neubau der Mibo zu finanzieren sein. Aber das Verhalten der Stadtverwaltung sei typisch für die stetige Benachteiligung Borbecks. „In Rüttenscheid oder Bredeney würde man nicht wagen, den Bürgern das zu bieten, was man uns bietet“, so das Elternbeiratsmitglied Kürten. „Gebieterisch“ verlangte die Elternschaft in einer am 29. November 1929 verabschiedeten Resolution „die sofortige Inangriffnahme des Schulbaues, damit die Kinder endlich  ein würdiges Heimbekommen. Unmöglich kann das bisherige System der Unterrichtung in Baracken beibehalten werden, da hierdurch die Gesundheit der Kinder auf das schwerste gefährdet wird und bekanntlich die Jugend Deutschlands Zukunft darstellt.“

Doch aller Protest half nicht weiter. Die beginnende Weltwirtschaftskrise mit ihren verheerenden Auswirkungen auch auf die städtischen Finanzen stand dem so dringend erforderlichen Neubau entgegen.

Mittlerweile waren beinahe schon sechs Schuljahre vergangen und das bedeutete, dass die Anerkennung der Mibo als Vollanstalt anstand. Am 18. Dezember 1930 fand die Revision durch den Regierungsrat Nikol statt. Die Schule bestand zu diesem Zeitpunkt aus acht Baracken: Jede Baracke enthielt zwei Klassenzimmer (à 7,8 x 5,5 m) und einen Mittelraum (à 4 x 4 m). Für die 16 Klassen war je ein Klassenzimmer vorhanden. In den Mittelräumen waren die Lehrer- und Schülerbücherei, die naturgeschichtliche Sammlung, die Lehrmittel für Religion, Deutsch, Geschichte, Geografie, das Konferenzzimmer, das Elternsprechzimmer untergebracht; ein Raum für den evangelischen Religionsunterricht. An sonstigen Sonderräumen (alle in Größe der Klassenzimmer) waren vorhanden: ein Physiksaal (diente auch dem biologischen Unterricht), ein Zeichensaal (auch Handarbeitsrau,), ein Werkraum (gleichzeitig Musikzimmer), ein Turnraum (12,4 x 6,7 m). Regierungsrat Nikol, der vor allem den Unterricht in den unteren Klassen visitiert hatte, gab ein positives Gutachten ab, so dass die Städtische Knaben- und Mädchen-Mittelschule Borbeck durch Erlass des Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 18. Februar 1931 als vollausgestattete Anstalt anerkannt wurde.

Wenige Tage später, am 21. März 1931, fand dann die erste feierliche Entlassung von 50 Schülern und 32 Schülerinnen statt. (Erinnert sei, dass 1925 131 Jungen und 79 Mädchen eingeschult worden waren). Voller Stolz vermerkte der Rektor in der Schulchronik: „Wenn wir auch nur in Baracken untergebracht und in Ermangelung mancher Sonderräume unter manchen Schwierigkeiten gearbeitet haben, muss doch betont werden, dass eifriges Wirken eines berufsfreudigen Lehrkörpers und gute Mitarbeit des durchweg brauchbaren Schülermaterials die in den Bestimmungen gesteckten Lehrziele voll und ganz haben erreichen lassen.“

Von der immer gravierender werdenden Wirtschaftskrise waren auch die Schulabgänger betroffen. Dennoch gelang es 1931, beinahe allen Schülern und Schülerinnen mit dem Reifezeugnis eine Lehrstelle zu verschaffen, sofern sie nicht auf eine weiterführende Schule wechselten. Ein Jahr später war die Bilanz nicht mehr so positiv. Zwar fanden noch alle Mädchen eine Lehrstelle, doch von den 40 Jungen konnten nur 17 versorgt werden.

Der Lehrstellenmangel blieb auch in den folgenden Jahren ein großes Problem vor allem für die Jungen. Dagegen unterstrich ein Bericht im Essener Anzeiger vom 24. Dezember 1932 – im zeittypischen Vokabular – nochmals die Bedeutung, welche die Mittelschule für den Berufsweg des Mädchen habe: Ein Abschluss „ermöglicht die Ausbildung als Kindergärtnerin, Hortnerin, Jugendleiterin, Säuglingspflegerin, Wohlfahrtspflegerin, Polizeibeamtin, Strafanstaltsinspektorin, Privatmusiklehrerin, Lehrerin der landwirtschaftlichen Haushaltskunde, Turn- und Sportlehrerin, Lehrerin der weiblichen Handarbeiten und der Hauswirtschaftskunde, Laboratoriumsassistentin, Chemotechnikerin, Metallographin.“ Man konnte „feststellen, dass eine ganze Reihe schöner Frauenberufe ohne Abitur und ohne Lyzealreife für Mittelschülerinnen erreichbar ist, die zum größten Teil im engsten Zusammenhang mit den weiblichen Anlagen stehen, und in denen Frauenarbeit wahre Kulturarbeit bedeutet.“

Die Attraktivität der Mibo speziell bei den Schülerinnen ging zu Lasten des Borbecker Lyzeums. Seit 1925, also seit Einrichtung der Mittelschule, hatte sich dessen Schülerinnenzahl stetig verringert. Besuchten 1925 noch 350 Mädchen das Lyzeum, so waren es zehn Jahre später nur mehr 133. Die Folge war, dass die Stadt, die weiterhin unter großen Finanzproblemen litt, als Sparmaßnahme des Borbecker Lyzeum schloss. Des einen Leid – des anderen Freud. So kam die Mibo unerwartet zu ihrem ersehnten Schulgebäude. Bereits im Dezember 1931 hatten einige Mädchenklassen leer stehende Räume des Lyzeums genutzt, im Schuljahr 1935 / 36 erhielt die Mibo dann das gesamte Gebäude. Allerdings war es für die Mittelschule nicht ausreichend, so dass ein Teil der Jungenklassen weiterhin in den Baracken unterrichtet werden musste.

Eine Schule existiert nicht im luftleeren Raum, sondern politische Umwälzungen machen sich auch im Schulalltag bemerkbar. Wie stark gerade der Einfluss von außen in der NS-Zeit war, wie sehr die Schule ins politische Tagesgeschehen einbezogen wurde, ist auch der Chronik der Mibo abzulesen.

Aus Anlass des – angesichts der Umstände bescheidenen – Wahlerfolges der Regierung Hitler bei den Reichtagswahlen 1933, der noch als „Sieg der nationalen Regierung“ gefeiert wurde, gab es – wohl sehr zur Freude der Schüler und Schülerinnen – schulfrei. Unterrichtsfrei war auch am 21. März 1933, als die Eröffnung des neuen Reichstages mit einem Staatsakt in der Potsdamer Garnisonkirche eingeleitet wurde. Um 11.45 Uhr fand eine Feierstunde im Turnsaal und Gesangzimmer der Schule statt. „Der Rektor wies in seiner Ansprache auf die Bedeutung des Tages hin. Anschließend hörten die Schüler(innen) die Rede des Reichspräsidenten und Reichskanzlers in Potsdam.“ Die Feierlichkeiten nahmen kein Ende. Am 1.Mai wurde im „festlich geschmückten Turnraum“ die Feier des „Tages der Arbeit“ veranstaltet, und einen Tag später gedachte man mit „einer Festrede auf den Führer“ des Geburtstages Hitlers, der nachgefeiert wurde, da der 20. April noch ein Feiertag war. Des weiteren berichtet die Chronik im Rückblick auf das Schuljahr 1933 / 34: “ An größeren Schulfesttagen, wo der Unterricht ganz oder teilweise ausfiel, sind außer der oben genannten Maifeier und dem Tag der Jugend noch zu erwähnen: die Schlageterfeier am 26. Mai (Gedächtnisrede Mi.L. Winmann); am 28. Juni gedachte die Schule des Tages, an dem der Schandvertrag von Versailles unterzeichnet wurde (Vortrag des Rektors); am 14. Juli war schulfrei anlässlich der Anwesenheit des MiPräs Göring; am 12. September Besuch der großen Landwirtschaftlichen Ausstellung; am 18. September war die nationale Flugveranstaltung mit Schülerfreiflügen; am 30. September Wandertag mit Besichtigung eines Bauernhofes (am vorhergehenden Tage war in einer besonderen Unterrichtsstunde auf die hohe Bedeutung des Bauernstandes für unser Volk hingewiesen worden); am 18. Januar Reichsgründungsfeier (Festrede Mi.L. Franken); am 30. Januar gedachte der Rektor in einer Ansprache des Regierungsantrittes des Volkskanzlers A. Hitler, anschließend hörten wir im Rundfunk die Rede des Führers zur Eröffnung der Arbeitsschlacht. Mehrere Male besuchte die Schule nationale Filme, welche den Schülern und Schülerinnen nationalsozialistisches Denken und Wirken vor Augen führten.“

Die Nationalsozialisten beließen es nicht allein bei den Festivitäten, auch bei der Ausgestaltung des Unterrichts war die NS-Ideologie prägend. Bereits 1934 musste ein Plan ausgearbeitet werden, „aus der die Vermittlung nationalsozialistischen Gedankenguts ersichtlich ist“. Rassenkunde, die Geschichte der NS-Bewegung, die germanische Vorgeschichte und der Luftschutz waren Themenbereiche, die in den Lehrplan zu integrieren waren. Zudem wurde im Klassenbuch eine besondere Rubrik „für die nationalsozialistische Belehrung“ eingerichtet.

Auf die Schüler und Schülerinnen erhöhte sich der Druck, sich den nationalsozialistischen Jugendorganisationen, der Hitler-Jungen (HJ) bzw. dem Bund Deutscher Mädel (BDM), anzuschließen. Die Lehrpersonen hatten sich werbend für die Staatsjugend einzusetzen, Kleidung, die an die Zugehörigkeit von konfessionellen Verbänden erinnerte, war zu verbieten, und es durften keine Freistellen mehr an Schüler und Schülerinnen vergeben werden, die nicht den NS-Verbänden angehörten. Die wachsende Pression hatte – zumindest äußerlichen – Erfolg.

Waren im Schuljahr 1933 / 34 nur 60 Prozent der Jungen und 25 Prozent der Mädchen in der HJ bzw. im BDM, so stieg die Quote auf 56 (Mai 1935) und dann auf 88 Prozent (März 1936). In der so genannten „Woche des Jungvolks“ vom 18. bis 25. April 1936, als ganz massiv für die Jugendverbände geworben wurde, konnte sich kaum jemand mehr entziehen, so dass nun 99 Prozent der Schülerschaft der Staatsjugend angehörte. Infolgedessen wurde am 16. Juli die HJ-Fahne „in Anwesenheit der Jugendwalter, der Vertreter der Partei und des NS-Lehrerbundes feierlich gehisst“.

Wenngleich von der NSDAP gefordert wurde, dass es für jeden Erzieher „nationale Pflicht“ sein, „unsere Jugend zu begeistern im echt nationalsozialistischen Sinne“, wenngleich alle äußerlichen Anzeichen dafür sprechen, dass dieses Programm auch umgesetzt wurde, so ist doch Skepsis angebracht. Borbeck war katholisch geprägt und daher in der Weimarer Republik eine Zentrumshochburg. Gleiches gilt auch für die Mehrheit der Lehrerschaft am der Mibo. Es ist daher nicht überraschend, dass der Rektor Kranendick bereits im Februar 1933 in der Nationalzeitung, dem Presseorgan der Essener NSDAP, heftig angegriffen wurde. Viele Lehrer und Lehrerinnen verharrten nach 1933 in Distanz zum NS-Regime. Die Schulverwaltung musste daher zu ihrem Bedauern konstatieren: „Von einzelnen Lehrkräften wird im Unterricht nicht im Sinne der Regierung gearbeitet. Auch der Religionslehrer der Schule muss versetzt werden, da er der Arbeit im Sinne des Reiches entgegenwirkt.“ Die Versetzung von zwei Lehrerinnen und des Kaplan Parsch bewirkte keine Besserung, was die Wut der Parteifunktionäre steigerte. Man wusste sich keinen anderen Rat mehr, als zum Jahreswechsel 1938/39, also mitten im Schuljahr, die Hälfte des Lehrerpersonals auszuwechseln. Der Oberbürgermeister begründete diese Aktion damit, dass nur auf diese Weise „eine stärkere Durchringung des Lehrkörpers mit nationalsozialistischen Lehrpersonen“ zu erzielen war. Die neuen Lehrer und Lehrerinnen wurden in einer Konferenz am 26. Januar 1939 vom Konrektor Oesreich begrüßt und entsprechend angewiesen: „Das gemeinsame Ziel, das wir alle als deutsche Erzieher zu erstreben haben, sei der deutsche Mensch im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung. Der Einfluss anderer Mächte auf die uns anvertraute Jugend trete weitgehend zurück. Klare Arbeit der Erzieherschaft an sich selbst befähigt sie erst zu der geistigen Geschlossenheit, die sie als nationalsozialistische Erzieher brauchen, um erfolgreich wirken zu können.“

Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde das Lehrerkollegium nochmals verändert. Bedingt durch die Einberufungen zum Wehrdienst herrschte Lehrermangel mit gravierenden Auswirkungen auf den Unterricht. So musste wechselweise für die Jungen und Mädchen Vormittags- und Nachmittagsunterricht eingeführt werden. Zudem nahm man gezwungenermaßen eine Verringerung der Unterrichtsstunden in einigen Fächern vor. Mit Fortdauer des Krieges kamen neue Belastungen auf die Schule zu. Die Baracken waren für die Unterbringung von Kriegsgefangenen und Fremdarbeitern, die bei Krupp arbeiteten, beschlagnahmt worden, so dass Jungen in das benachbarte Gymnasium ausweichen mussten. Als das Schulgebäude der Mibo am 16. September 1942 erstmals bei einem Bombenangriff getroffen und beschädigt wurde, zogen auch die Mädchen ins Gymnasium, wo eine Drei-Tage-Woche eingerichtet wurde. Montags, mittwochs und freitags erhielten die Jungen, dienstags, donnerstags und samstags die Mädchen Unterricht.

Wegen der zunehmenden Gefährdung durch Bombenangriffe wurden im Februar 1943 im Rahmen der Kinderlandverschickung (KLV) die ersten sechs Klassen nach Teplitz, einem kleinen tschechischen Badeort, verlegt. Andere Klassen kamen im Mai 1943 nach Rüdesheim oder nach Luhatschowitz. Die Wahrnehmungen über den Aufenthalt sind unterschiedlich. In der Festschrift der Schule von 1960 wird Frl. Becker zitiert, die von einem „schönen Zusammensein“ berichtet. Dagegen klagte die Lehrerin Gendron, dass ihr Wohn- und Schlafraum wegen des Kohlenmangels nur unzureichend geheizt wurde und dass sie sich daher „in den Winter- und Frühlingsmonaten 1943/44 nur in den Mantel eingehüllter im Zimmer aufhalten konnte“. Während die Schüler und Schülerinnen fernab der Heimat auf das Kriegsende warteten, endete der Unterricht an der Mibo bereits am 25. Juni 1943. Bei einem Luftangriff wurde das Schulgebäude derart stark von Brandbomben beschädigt, dass Unterricht hier zukünftig nicht mehr erteilt werden konnte. 1925-1945 – diese Jahre waren für die Schüler und Schülerinnen wahrlich eine Schule für das Leben. Sie durchlitten Hitze und Kälte in den Barackenräumen, erlebten Not und Entbehrung in den Krisenjahren und bangten angesichts des Lehrstellenmangels zu Anfang der 30er Jahre um ihre Ausbildung. In der NS-Zeit waren sie der NS-Ideologie ausgesetzt, zu der viele in Distanz verharrten, andere wiederum waren begeistert von Angeboten der HJ und der BDM. Der Zweite Weltkrieg brachte dann Angst und Schrecken, Erniedrigung und Zerstörung. Während in den ehemaligen Schulbaracken die Kriegsgefangenen und Fremdarbeiter, die bei Krupp arbeiteten – über deren Lebensumstände wir leider nichts wissen- das Kriegsende herbeisehnten, befanden sich Lehrer und Lehrerinnen, Schüler und Schülerinnen der Mibo im Ausland, am Kriegsende auf der Flucht vor den heranrückenden Russen. 

„Non scolae…“

Dr. Klaus Wisotzky